Faszination Nintendo: Was ist so spannend an der Geschichte des Spielekonzerns?

Interessante Geschichten hinter den Kulissen der Videospielwelt gibt es massenhaft zu erzählen. Mitunter kann man sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass gerade Nintendo eine besondere Faszination auf Fans des Hobbys ausübt. Bei kaum einem anderen großen Namen der Branche dürfte die Unternehmensgeschichte im Allgemeinen und im Speziellen bei Fans auf so viel Interesse stoßen wie bei Nintendo. Warum mag das so sein?


Der nachfolgende Artikel wurde ursprünglich in unserem dritten „Inside Nintendo“-Sammelband (2018) veröffentlicht (S. 344–349). Für die Onlinefassung wurde der Text geringfügig überarbeitet und mit Bildern versehen. Alle Infos zu unseren Sammelbänden, erhältlich als Paperback wie als eBook, findet ihr unter diesem Link.

Quer durch alle Epochen

Der erste Grund ist ein ganz naheliegender: Kein anderes Unternehmen der Videospielindustrie kann auch nur annähernd auf eine so lange Geschichte zurückblicken wie Nintendo. Schließlich ist der japanische Konzern bereits 1889 gegründet worden, was auf den ersten Blick dem unerfahrenen Auge wie ein Zahlendreher aussehen mag. Natürlich gerieten interaktive Unterhaltungsprodukte erst im letzten Drittel der Unternehmensgeschichte in den Blick, aber durch seine lange Geschichte hat Nintendo sämtliche historischen Epochen der Branche mitgemacht. Und dem nicht genug, hat der Konzern eben auch über 70 Jahre Geschichte „vor Mario“ zu bieten, die ebenfalls die ein oder andere kuriose Wendung parat hält. Viele wissen gar nicht, dass der traditionelle Spielkartenhersteller in den 1960er- und 1970er-Jahren seine Fühler in die ungewöhnlichsten Felder ausstreckte und sich selbst an Kinderwagen, Bürozubehör, Liebeshotels und vielem anderen versucht hat.

Und danach ging es ja erst so richtig los. Nintendos Geschichte als Spielehersteller deckt sämtliche Epochen der Spieleindustrie ab, weshalb eine große Bandbreite an potentiell interessanten Themen zur Verfügung steht. Jede dieser Epochen ist bereits für sich betrachtet ein ganz eigenes Gebiet und verbirgt eine Vielzahl an zu erzählenden Geschichten. Da wäre etwa die Frühzeit der Videospiele, in der Nintendo mit heute kaum noch bekannten Arcade-Automaten, simplen Spielekonsolen (der Color-TV-Game-Reihe) und LCD-Handhelds (der etwas bekannteren Game-&-Watch-Reihe, die bis in die 1980er-Jahre fortbestand) im gerade erst in der Entstehung begriffenen Videospielsektor Fuß zu fassen begann.

In den 1980er-Jahren folgten, beginnend mit dem „Donkey Kong“-Spielautomat, Nintendos erste große Welterfolge. Mit dem Famicom/Nintendo Entertainment System sowie dem Game Boy gelang es den Japanern in der 8-Bit-Ära, den Heimkonsolen- und den Handheld-Bereich und damit gleich zwei Sektoren der Branche im Sturm zu erobern. Im Falle des Heimkonsolenbereichs baute Nintendo einen Branchensektor sogar von Null wieder auf, hatte doch der Video Game Crash von 1983 praktisch den Zusammenbruch der gesamten amerikanischen Heimkonsolenindustrie bedeutet.

Und natürlich bieten auch die 1990er-Jahre zahlreiche faszinierende Geschichten – die 16- und 64-Bit-Epochen, in denen Videospiele immer größer, immer erfolgreicher, immer besser wurden und in die dritte Dimension übergingen. Später war das Jahrzehnt für Nintendo zugleich die Zeit zurückgehender Verkaufszahlen im Heimkonsolen- wie – dank der „Pokémon“ – unerwarteter Erfolge im Handheldbereich. Doch wohl am interessantesten ist stets die Gegenwartsgeneration, und jetzt, da Nintendo so gut da steht wie seit einigen Jahren nicht mehr, warten auch hier unzählige wissenswerte oder unterhaltsame Storys darauf, erzählt zu werden.

Geschichte wiederholt sich

Wir wollten jetzt aber keinen kurzen Streifzug durch die Nintendo-Geschichte beginnen. Vielmehr sollte der kleine Abriss skizzieren, wie vielfältig die einzelnen Phasen der Geschichte des japanischen Konzerns sind, und dass jede davon ihre eigenen und genuin bedeutsamen Geschichten aufweist. Richtig bewusst werden kann das einem eigentlich erst dann, wenn man sich mit einem Einzelthema einer solchen videospielgeschichtlichen Phase etwas näher beschäftigt und dabei den Kontext der damaligen Zeit besser wahrnimmt. Ansonsten neigt man zu sehr dazu, die Vergangenheit nur im Lichte der Gegenwart zu betrachten – wie es natürlich für sämtliche Beschäftigungen mit Geschichte gilt.

Wie dem auch sei, zugleich ist deutlich geworden, dass Nintendo sehr häufig ganz vorne mit dabei war, wenn es um bedeutende Umbrüche ging; oft genug hat das Unternehmen ein sehr gutes Gespür an den Tag gelegt und sich dadurch als Vorreiter seiner Branche unter Beweis gestellt. Auch das macht Nintendos Geschichte zweifelsohne zu einem Gegenstand von fasziniertem Interesse. Wer die Geschicke des Konzerns nur ein wenig mitverfolgt hat, weiß aber natürlich auch, dass Big N schon einige harte Phasen durchleben musste. Mit der Wii U haben Fans der Japaner ja erst vor wenigen Jahren eine schwierige Zeit mitmachen müssen. Aber gerade auch davon lebt die Faszination Nintendo.

Enorme Erfolge und stagnierende Zahlen sind in der Konzernhistorie schon öfter vorgekommen, sie scheinen sich sogar fast phasen- oder zyklenartig zu wiederholen. Schließlich folgte auf die goldenen 8-Bit-Jahre ein langsamer Bedeutungsverlust, bis – wie schon erwähnt – „Pokémon“ und der Game Boy die Bilanzen des Unternehmens wieder in den Himmel schnellen ließen. Auf maue Jahre mit dem GameCube folgte dank Wii und DS ein neuer Höhenflug, der alles Vorherige in den Schatten stellen sollte – und genau so schnell ging es auch wieder bergab, wovon sich Nintendo nun seit der Veröffentlichung von Nintendo Switch wieder mit sehr guten Resultaten erholt hat. Eine vergleichbare Phasenartigkeit von Auf und Ab war Nintendo übrigens schon in seiner langen Geschichte vor den Videospielen gewohnt.

Der „Mario“-Konzern hat sich also stets je nach aktueller Lage entweder als Vorreiter oder als Außenseiter erwiesen. Wie man es auch dreht und wendet, es dürfte unbestreitbar sein, dass Nintendo ganz einfach unberechenbar ist. Man weiß nie so ganz, wohin es das Unternehmen als nächstes treibt. Dies garantiert einerseits kreative neue Ideen, die die Industrie als Ganze beflügeln können, andererseits steht Nintendo nicht selten für seine Eigenbrötlerei in der Kritik – das übrigens auch nicht erst seit einigen Jahren. Schon seit Jahrzehnten sagen Unheilspropheten dem Konzern seinen nahen Untergang an – doch die gigantischen Geldreserven, auf denen Nintendo sitzt, strafen den Leitsatz „Nintendo is doomed“ Lügen. Ganz gleich jedenfalls, ob die Auswirkungen positiver oder negativer Natur sind: Auch diese Unberechenbarkeit macht es so interessant, sich mit Nintendo zu beschäftigen.

Schon seit jeher kennt die Nintendo-Geschichte große Krisen. Dieses Bild zeigt einen Hungerstreik von Nintendo-Mitarbeitern Mitte der 1950er-Jahre als Reaktion auf eine Entlassungswelle, mit der der damals neue Unternehmenschef Hiroshi Yamauchi seine Autorität durchsetzen wollte (Quelle: NintendoMemo).

Die Arbeit der Nintendo-Ninjas

Neben der Unberechenbarkeit sind es auch eine gewisse Alterität im Vergleich zur gesamten Videospielindustrie sowie der Ruf der Verschlossenheit, die eine Beschäftigung mit den Hintergründen bei Nintendo so interessant machen. Seit jeher gilt der Konzern als recht geheimniskrämerisch, und im Vergleich zu anderen großen Unternehmen der Branche gibt Nintendo auch tatsächlich relativ wenige Interna preis. Alles andere würde auch der Unberechenbarkeit zuwiderlaufen. Dabei ist Big N in den letzten Jahren dank Sozialer Netzwerke sowie Formaten wie „Nintendo Direct“ und „Iwata fragt“ bereits deutlich transparenter geworden. In früheren Jahren agierte das Unternehmen noch deutlich verschlossener.

„Wenn ich an Nintendo denke“, formulierte ein Interviewer, als Nintendo-Chefproduzent Shigeru Miyamoto am 3. Juli 2003 an der Universität Tokio eine Gastvorlesung hielt, „dann bekomme ich den Eindruck, dass das Unternehmen dem Prozess, wie Spiele gemacht werden, nicht viel Medienpräsenz gewährt.“ Das Unterverschlusshalten solcher Interna wie auch das relativ späte Enthüllen neuer Produkte hat Nintendo häufig damit begründet, Imitationen durch die Konkurrenz vermeiden zu wollen. Damals, im Juli 2003 gab Miyamoto aber noch eine andere, viel simplere Begründung: „Naja, es ist nicht etwas, was wir aufzudecken beabsichtigen … Ich meine, nur weil ein Spiel spaßig ist, bedeutet das nicht, dass auch die Geschichte hinter all dem spaßig ist.“

Hinter den Kulissen

Einige hartgesottene Nintendo-Fans sehen das natürlich entschieden anders und haben es sich daher auf die Fahne geschrieben, all das, was Nintendo unter Verschluss hält oder zumindest nicht prominent verlautbart, zu rekonstruieren. Oft genug hat sich dabei auch gezeigt, dass die Geschichten hinter einzelnen Videospielen doch sehr interessant sein können. Die umfangreiche Interviewreihe „Iwata fragt“ hat einige Jahre lang enorm dazu beigetragen, den Entstehungsprozess vieler Nintendo-Spiele der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Meinung, dass die Geschichte hinter einem Spiel nicht interessant sein könne, scheint Nintendo offenkundig nicht mehr zu vertreten.

Dank der Bemühungen einiger Nintendo-Fans konnte sogar die interne Struktur von Nintendos Haupt-Entwicklungsabteilung, Entertainment Analysis & Development (EAD), so detailliert aufgedeckt werden wie bei nur wenigen anderen bedeutenden Entwicklerstudios (siehe dazu etwa „Inside Nintendo 4: Die Entwicklungsstruktur der EAD“). Die Veränderungen innerhalb der einzelnen Software- und Hardware-Entwicklungsabteilungen des Konzerns sowie an deren Struktur lassen sich auch recht gut im Laufe der Zeit nachverfolgen, wie wir es etwa in „Inside Nintendo 79: Nintendos Entwicklungsabteilungen im Wandel der Zeit“ getan haben. Und auch dieses Wissen ist kein nutzloses Wissen, sondern hat einen Nutzen, erlaubt es schließlich auch wertvolle Einblicke in Nintendos Entwicklungsprozess.

Bei Nintendo EAD hat eine Belegschaft von wenigen hundert Entwicklern einige der beliebtesten, erfolgreichsten und bedeutsamsten Spiele der letzten 35 Jahre hervorgebracht. Gemessen an der Anzahl der Mitarbeiter ist die Anzahl der Spiele, die Nintendo pro Jahr intern entwickelt, ungewöhnlich hoch. Verglichen mit anderen großen Studios der Industrie ist Nintendo also ein ziemlich effizientes Unternehmen. Immerhin erfordern die größten Titel der Branche Teams, die größer sind, als es Nintendos gesamte EAD-Abteilung kurz vor ihrer Umstrukturierung war!

Dialektik von Verspieltheit und Ernst

„Iwata fragt“ hat einige Merkmale, die Nintendo schon seit langer Zeit in den Augen vieler Leute geprägt haben, noch deutlicher an den Tag gelegt. So präsentiert sich der Konzern seit jeher als ein einfach sympathisches Unternehmen, das alles andere als gesichts- oder humorlos daherkommt. Tief in die Nintendo-DNA muss eine gewisse Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit verankert sein, die sich in der Beliebtheit und der Qualität der erfolgreichsten Nintendo-Spiele widerspiegelt. Völlig durchgedrehte Spiele mit innovativen Konzepten wie etwa „WarioWare“ zeugen außerdem von einer gewissen exzentrischen und verspielten Natur.

Dass Produzenten ihr neuestes Spiel im Katzenkostüm vorstellen, wie auf der E3 2013 für „Super Mario 3D World“, ist typisch Nintendo. Und in der Zeit von Nintendo-Präsident Satoru Iwata haben die „Nintendo Direct“-Präsentationen viele überaus ulkige Momente parat gehabt, die irgendwo auf der Skala zwischen genial-verrückt und peinlich-albern anzusiedeln sind. Zugleich aber ist Nintendo ein typischer japanischer Konzern, der Ordentlichkeit, Hierarchie und Tradition groß schreibt. Sicher war dies in früheren Jahren noch stärker ausgeprägt als heute; aus den 1990er-Jahren gibt es etwa Berichte über verschiedene Eingänge für einfache Mitarbeiter und wichtige Manager sowie über eine Bürokultur, die sehr von Stille, Sterilität sowie Pünktlich- und Ordentlichkeit geprägt (gewesen) sein soll.

Aber auch in aktuellen Interviews sieht man Nintendo-Entwickler häufig nur in Firmenkleidung. Und die wenigen Video- und Bildmaterialien, die es aus dem Herzen des Nintendo-Hauptquartiers gibt, wirken ernüchternd: Der Ort, an dem die wohl zauberhafteste Magie der Spielewelt entsteht, ist von innen fast genauso steril und langweilig, wie es das rechteckige weiße Gebäude mit seinen unzähligen gleichmäßig angeordneten Fenstern von außen bereits vermuten lässt. Nintendo ist nicht eines dieser hippen, coolen Start-Up-Unternehmen, deren Manager in Jogginghose herumlaufen; ganz im Gegenteil, präsentieren sich Nintendos Präsidenten schon seit Jahrzehnten stets nur mit Anzug und Krawatte. So sehr Kreativität auch groß geschrieben wird – letztlich geht es ja auch einem Spieleunternehmen hauptsächlich ums Geschäft.

Tradition, Erfahrung und junge Talente

Doch nicht etwa Dienstkleidung oder Großraumbüros sind es, die einen wichtigen Beitrag zur Faszination Nintendo leisten, sondern vielmehr die reichhaltige Tradition des „Mario“-Konzerns. In 130 Jahren Firmengeschichte hat Nintendo einfach unfassbar viel Erfahrung sammeln können. Einige der bedeutendsten Persönlichkeiten der Branche haben dem Unternehmen durch die Jahrzehnte ihres dortigen Wirkens – in Japan kommt es deutlich häufiger als im Westen vor, dass jemand seinem Arbeitgeber das ganze Leben über treu bleibt – ihren Stempel aufgedrückt. Als bekannteste dieser Namen seien genannt Hiroshi Yamauchi, der über 50 Jahre das Amt des Nintendo-Präsidenten bekleidete, Game-Boy-Erfinder Gunpei Yokoi, „Super Mario“- und „The Legend of Zelda“-Schöpfer Shigeru Miyamoto sowie Satoru Iwata, Präsident von 2002 bis zu seinem Tod 2015.

Es gibt ganze Generationen an Nintendo-Entwicklern mit konstanten Karrieren, die Nintendos Geschichte und Geschicke enorm geprägt haben und noch heute dort arbeiten. Die für Nintendo als Videospiele-Entwickler prägende Generation der 1970er-Jahre, der auch Miyamoto angehört, ist inzwischen zwar durch Ruhestand und teils auch Tod bereits zu einem Großteil erloschen. Doch die Erfahrungen dieser wegweisenden Mitarbeiter sind unwiderruflich in die Unternehmens-DNA eingegangen. Das hat der Journalist Osamu Inoue anhand der oben genannten vier Namen in seinem Buch „Nintendo Magic“ (s. S. 326) aufgezeigt. Man kann es sich wohl nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie es sein muss, umgeben von so bedeutenden Kreativen mit so beeindruckenden Lebensläufen zu arbeiten!

Bekanntlich gilt ja „die Mischung macht's“, und so setzt Nintendo natürlich auch stets auf neuere Gesichter. Praktisch seit jeher überträgt der Konzern die kreative Direktion auf die jüngste Generation, an talentierte junge Mitarbeiter, die sich in unteren Positionen bewährt haben – so hat selbst die Karriere eines Shigeru Miyamoto begonnen –, während die leitenden Entwickler der vorherigen Generationen auf der Karriereleiter einen Schritt nach oben steigen. In den letzten Jahren hat Nintendo viele Maßnahmen ergriffen, um für das unvermeidlich irgendwann fällige Ausscheiden Miyamotos vorbereitet zu sein. Als Creative Fellow hat dieser seit 2015 ohnehin nur noch eine beratende Funktion.

Anders, als Nintendo oft vorgeworfen wird, hat der Konzern aber nicht etwa junge Talente zugunsten von bewährten Entwicklern benachteiligt; dieses Zerrbild entsteht häufig dadurch, dass die bekannteren etablierten Entwicklernamen in der Vermarktung bevorzugt werden. So wurden in jüngeren Jahren beispielsweise „Splatoon“ und „ARMS“ von recht jungen Teams entwickelt. Doch schon für Meilensteine wie „The Legend of Zelda: Ocarina of Time“ oder noch zehn Jahre zuvor „Super Mario Bros. 3“ hatten damals hauptsächlich Neuzugänge verantwortlich gezeichnet, während die alten Hasen die Arbeiten jeweils beaufsichtigten und kontrollierten. Heute wiederum sind Leute wie Hideki Konno, Katsuya Eguchi oder Eiji Aonuma, die damals ihre Debüts gaben, selbst hochrangige Produzenten, die die Verantwortung für ganze Entwicklerteams haben.

Die leitenden Entwickler der „Splatoon“-Reihe. Gruppenfotos von Nintendo-Entwicklern mögen in früheren Jahrzehnten etwas anders ausgesehen haben, das ändert aber nichts an dem Umstand, dass die entsprechenden Entwicklerteams zu ihren Zeiten in etwa genauso jung waren (Quelle: Famitsu).

Entwicklungsphilosophien mit Konstanz

Viele der Gründe, die wir bislang für die Faszination Nintendo angeführt haben, können zugleich als Erklärung für die Qualität von Nintendos Spitzenprodukten fungieren. Näher hatten wir uns damit bereits in „Inside Nintendo 35: Warum sind Nintendos Spiele so gut?“ auseinandergesetzt. Außerdem hat sich jetzt schon mehrfach hier gezeigt: Die Gründe, die die Faszination Nintendo ausmachen, sind ziemlich konstant und nicht erst in den letzten Jahren aufgekommen. An Nintendos wesentlichen Philosophien hat sich über die letzten Jahrzehnte gar nicht so viel geändert, wie man zunächst annehmen mag.

Das untermauert, wie wichtig dem Konzern seine Tradition ist – häufig spielt Nintendo in seinen eigenen Spielen ja auch ganz bewusst mit seiner eigenen Geschichte, wie etwa in der „WarioWare“-Reihe. Das besondere Gewicht, das der eigenen Tradition beigemessen wird, erklärt wiederum, warum sich Nintendo in vielen Fragen der aktuellen Zeit wie etwa Online-Spielen schwer tut und nach Meinung einiger Kritiker zu langsam reagiert. In diesen Gesichtspunkten weist der japanische Konzern durchaus Parallelen zur römisch-katholischen Kirche auf, wenn dieser Vergleich hier gestattet ist.

Im Laufe dieser Traditionsgeschichte haben sich zahlreiche Philosophien etablieren und bewähren können, die ebenfalls erheblich dazu beitragen, dass Nintendo-Produkte das sind, was sie sind. Einige davon wollen wir hier schlaglichtartig benennen: Der von Gunpei Yokoi geprägte Grundsatz „Lateral Thinking With Seasoned Technology“ (zu deutsch etwa: „Querdenkerei mit bewährter Technik“); das Erreichen einer möglichst großen Zielgruppe – auch nicht erst seit Wii- und DS-, sondern bereits seit NES-Zeiten –; ausgiebige Experimentierphasen, bei denen wie auch im restlichen Entwicklungsprozess Spielprinzip und Spielspaß an erster Stelle stehen, wohingegen Grafik und Handlung oft eine sekundäre Rolle spielen; dann in den Endphasen der Produktion eine oft zu beobachtende Bemühung, das Produkt absolut auf Hochglanz zu polieren.

Lange Phasen für Grundlagenforschung zu neuen Spielkonzepten und für den letzten Feinschliff haben der Entwicklung vieler Nintendo-Spiele geradezu ihren Stempel aufgedrückt. Besonders interessant sind die Experimentierphasen, über die meist nicht sehr viel bekannt wird – und wenn etwas über sie an die Öffentlichkeit dringt, erlaubt dies sehr tiefe Einblicke in Nintendos spezielle Entwicklungsprozeduren. Erinnert sei etwa an die berüchtigte Technik-Demo „Super Mario 128“, die die Grundlagen zu „Pikmin“ und „Super Mario Galaxy“ lieferte, an die fünfjährige Entwicklung von „The Legend of Zelda: Skyward Sword“, bei der die ersten drei Jahre ganz von einer ausgiebigen Experimentierphase geprägt waren, oder an den ersten Prototyp zu „Splatoon“, in dem Tofublöcke einander bekriegten – jeweils nachzulesen in den entsprechenden Ausgaben von „Inside Nintendo“.

Die Faszination des Unbekannten

Besonders solche Prototypen machen die besondere Entwicklungsumgebung bei Nintendo aus – und die Geschichten hinter Nintendo-Spielen überaus interessant. Dabei ist uns meist gar nicht bewusst, dass nur ein kleiner Bruchteil der unzähligen Prototypen, entwickelt jeweils von Teams mit einer Belegschaft, die sich an einer Hand abzählen lässt, überhaupt einmal das Licht der Welt erblickt. „Das Problem mit Nintendo ist, dass es sehr wahrscheinlich ist, wenn man ihnen irgendeine Idee zeigt, dass sie bereits einen Prototyp für diese Art Spiel intern entwickelt haben“, berichtete Dylan Cuthbert, der einige Jahre bei Nintendo EAD an den frühen „Star Fox“-Spielen gearbeitet hat. „Mehrfach habe ich ihnen bereits Sachen gezeigt, von denen ich dachte, sie wären total neu und originell, und dann sagen sie: ‚Eigentlich haben wir diesen Prototyp letzte Woche gemacht‘“. Die Krux an dem Ganzen: „Aber sie stellen niemals etwas fertig. Der absolute Großteil der Sachen schafft es niemals nach draußen.“

Auf verstärktes Interesse stoßen darum nicht zuletzt jene Spiele, die Nintendo zwar vorgestellt, aber niemals fertiggestellt hat, oder frühere Versionen von Spielen, die ganz anders als die finalen Produkte aussehen. Beispiele sind „Mother 3“ oder „Paper Mario: Sticker Star“. Hinzu kommen viele Spiele, die zwar angekündigt wurden, über die Nintendo-Mitarbeiter sogar mehrfach in Interviews gesprochen haben, zu denen aber nie Material gezeigt wurde, etwa „Return of Donkey Kong“, „Super Mario 64 2“, „Cabbage“ oder „Metroid Dread“. Und das, von dem wir wissen, ist ja nur ein Bruchteil dessen, was Nintendo tatsächlich alles in den letzten Jahrzehnten auf Eis gelegt hat – von den unzähligen Prototypen für neue Konsolen ganz zu schweigen, hier ist am bekanntesten wohl die „Nintendo Play Station“.

Wie unschätzbar viele und wertvolle Schätze wohl in Nintendos Firmenarchiven lagern mögen! Und das Interessante ist ja, dass nichts davon zwingend auf ewig verloren ist. Denn zum einen gibt Nintendo wirklich vielversprechende Konzepte nie ganz auf, wie etwa das Beispiel der Miis zeigt, deren Ursprünge bis in die NES-Ära zurückreichen. Und immer mal wieder erhalten wir durch glückliche Zufälle neue Einblicke in die Entwicklung von Spielen aus längst vergangenen Tagen, wie es häufig dank „Iwata fragt“ geschehen ist. Darüber hinaus geschehen auch mitunter noch Wunder, etwa als 2015 eine funktionstüchtige Nintendo Play Station aufgetaucht ist, 2017 im Rahmen des SNES Mini „Star Fox 2“ über 20 Jahre nach seiner Einstellung doch noch veröffentlicht wurde oder 2018 die sensationelle Entdeckung der für verschollen gehaltenen Space-World-1997-Prototypen von „Pokémon Gold“ und „Pokémon Silber“ (all die hier erwähnten Beispiele lassen sich ebenfalls in den entsprechenden verlinkten „Inside Nintendo“-Reportagen nachlesen).

Die wohl bekannteste Tech-Demo aus dem Hause Nintendo ist „Super Mario 128“, vorgestellt auf der Space World 2000.

Erinnerungen fürs ganze Leben

Den einfachsten und wohl gewichtigsten Grund, warum Nintendos Geschichte in ihren vielen Facetten so interessant ist, haben wir uns für den Schluss aufgehoben. Als Unternehmen, das seit jeher Unterhaltung für die ganze Familie groß schreibt, hat Nintendo mit seinen Spielen und Konsolen in vieler Menschen Kindheit eine große Rolle gespielt. Unzählige Spieler haben mit Big N ihre ersten Schritte in der Welt der Videospiele getan und die prägendsten Erinnerungen daran behalten. So machen Kindheitserinnerungen und Nostalgie einen ganz großen Anteil an der Faszination Nintendo aus. Gerade darum sind so zeitlose Marken wie „Super Mario“ oder „Pokémon“ heute genauso beliebt wie zu ihrer Geburt.

Die besten Nintendo-Spiele versetzen uns regelrecht in die Kindheit zurück. Mit Bravour gelingt dies etwa den „Super Mario Galaxy“-Spielen mit ihrer schier unbegrenzten Jump'n'Run-Fantasie, die direkt dem kreativen Geiste eines Kindes entspringen könnte. Und solche Spiele, die einen derartigen Eindruck auf uns hinterlassen, die legt man nicht einfach zu den Akten, wenn man sie durchgespielt hat. Vielleicht ist das auch ein wichtiger Grund dafür, dass heute noch so viele Spieler die alten Klassiker wie „Super Mario 64“ rauf- und runterspielen – und dass die Geschichte hinter diesen Spielen auf ein großes Interesse stößt.

Schließen möchten wir mit einem Zitat des deutschen Videospieljournalisten Benjamin Kegel, der sich nach 20 Jahren des Schreibens über Nintendo Gedanken gemacht hat, was ihn daran „am meisten fasziniert hat“. Dabei gelangt er zu folgendem Ergebnis (N-Zone 09/2018, S. 59): „[W]as mich am meisten begeistert, ist einfach die gigantische Geschichte rund um den Soft- und Hardwareriesen. Man könnte wohl ein ganzes Leben damit zubringen, nur über Nintendo zu schreiben – und Spaß dabei zu haben.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

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Bisher gibt es drei Kommentare

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  • Avatar von Mr. Murdock
    Mr. Murdock 26.01.2020, 11:41
    Ich auch. Solche sehr guten Berichte finde ich nie wieder
  • Avatar von Leonardron
    Leonardron 26.01.2020, 11:36
    Zitat Zitat von Minato Beitrag anzeigen
    Ein toller Report, der sehr stark meine eigene Meinung zu Nintendo widerspiegelt. Wie immer danke ich dir sehr für deine großartige Arbeit, die du hoffentlich beibehälst. Du hast sicherlich schon sehr vielen Lesern glückliche Momente bereitet und ein Lächeln ins Gesicht gezaubert – so wie es Nintendos selbstauferlegtes Ziel ist
    Da schließe ich mich an.
  • Avatar von Minato
    Minato 26.01.2020, 10:54
    Ein toller Report, der sehr stark meine eigene Meinung zu Nintendo widerspiegelt. Wie immer danke ich dir sehr für deine großartige Arbeit, die du hoffentlich beibehälst. Du hast sicherlich schon sehr vielen Lesern glückliche Momente bereitet und ein Lächeln ins Gesicht gezaubert – so wie es Nintendos selbstauferlegtes Ziel ist