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Pentiment

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Pentiment

Durch RPGs wie „Pillars of Eternity“ hat sich US-Entwickler Obsidian unlängst einen Namen gemacht. Doch über viele Jahre hegte Chefentwickler Joshua Sawyer, interessanterweise ein studierter Historiker, einen besonderen Wunsch: Er wollte ein Videospiel mit geschichtlichem Setting produzieren. Dieser Wunsch ist mit „Pentiment“, das im November 2022 für Windows und Microsoft-Konsolen herauskam, Wirklichkeit geworden. Seit Februar ist der Titel nun auch für Nintendo Switch erhältlich. Der Verfasser dieser Zeilen merkte als Theologe schnell, dass „Pentiment“ für ihn wie gemacht ist. Doch ist Obsidians unscheinbares Spiel auch für alle anderen interessant?

Im Anfang war das Wort (Joh 1,1)

Direkt zu Beginn sei festgehalten: In „Pentiment“ ist Manches nicht so, wie es scheint, und hinter der unprätentiösen, ja unscheinbaren Fassade steckt eine überraschende Tiefe. Schon die Frage, welchem Genre Sawyers Herzensprojekt zuzuordnen ist, lässt sich nicht so einfach beantworten. Oft wird „Pentiment“ als Rollenspiel bezeichnet, doch typische Elemente wie Kämpfe, Erfahrungspunkte oder ein Inventar sucht man vergebens. Mitunter erinnert es an ein Point & Click oder eine Visual Novel, doch auch diese Zuordnungen werden dem Spiel nicht ganz gerecht.

Am besten fügt sich der Titel in die breite Kategorie der Adventure-Spiele. Im Mittelpunkt stehen ganz eindeutig die Handlung und die Figuren, während die spielerischen Elemente auf ein Mindestmaß reduziert sind. Insgesamt erinnert das Ganze ein wenig an ein Detektivabenteuer, denn es geht darum, einen Mord aufzuklären. Dazu wollen Personen befragt und Orte erkundet werden. Spielende werden jede Menge Text lesen und teils schwierige Entscheidungen treffen.

Es ist aber nichts verborgen, was nicht offenbar wird (Lk 12,2)

Bereits das Setting macht aus „Pentiment“ etwas Einzigartiges. Das Spiel handelt in einem fiktiven bayerischen Kloster mit angrenzendem Dorf zu Beginn des 16. Jahrhunderts – also am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Die Spielenden übernehmen die Rolle des Künstlers Andreas Maler, der im Skriptorium des Klosters Kiersau an seinem Meisterstück arbeitet.

Mehr möchten wir über die Geschichte nicht verraten, denn „Pentiment“ lebt von seiner Handlung, die mit einigen unerwarteten Wendungen daherkommt. Bereits der offizielle Launchtrailer verrät unserer Ansicht nach viel zu viel. Bis die Handlung wirklich ins Rollen kommt, ist freilich Geduld gefragt – für manche Spielerinnen und Spieler vielleicht zu viel Geduld –, und auch dann benötigt es noch einiges an Ausdauer. Denn es gibt sehr viele Figuren innerhalb von Kiersau und im Dorf Tassing mit jeder Menge Gesprächsbedarf.

Selig, die arm sind vor Gott (Mt 5,3)

Die zahlreichen, teils langatmigen Dialoge machen aus „Pentiment“ eine gemächliche Spielerfahrung. Und gerade darin liegt eine der großen Stärken des Spiels. Die Figuren mögen sich größtenteils nicht durch einzigartige Charakterzüge und individuelle Biographien auszeichnen – für die einfache Dorfbevölkerung des frühen 16. Jahrhunderts ohnehin ein anachronistischer Gedanke –, die Dialoge meist nicht durch sensationelle Enthüllungen oder atemberaubend Spannendes glänzen. Doch es sind gerade die Authentizität und das dichte, sich erst allmählich entfaltende Netzwerk an Figuren und Relationen, die aus „Pentiment“ eine fesselnde Angelegenheit machen – so man sich denn darauf einlässt. Dass die Handlung dabei zu jedem Zeitpunkt bodenständig bleibt, ist eine angenehme Abwechslung und trägt weiter zur einmaligen, authentischen und immersiven Spielerfahrung bei.

Wie bereits gesagt, kredenzt „Pentiment“ nur wenige dezidiert spielerische Elemente. An vielen Stellen können die Spielenden aber Entscheidungen treffen und den Verlauf der Handlung beeinflussen. Auch zentrale, handlungsrelevante Eigenschaften von Andreas Maler wie seine Herkunft, seine Stärken oder sein Studienhintergrund können aus mehreren Optionen ausgewählt werden.

Weisheit erwerben – wie viel besser als Gold! (Spr 16,16)

„Pentiment“ ist ein bemerkenswert authentisches historisches Erlebnis. Die lateinische Sprache spielt eine große Rolle (natürlich werden aber keine Sprachkenntnisse vorausgesetzt) und Andreas kann sogar katholische Theologie studiert haben. Religion und gesellschaftliche Umbrüche stellen ein zentrales Thema dar, immerhin ist die Handlung im Jahre 1518 angesiedelt und damit nur wenige Monate nach dem Thesenanschlag Martin Luthers, dem Beginn der Reformation. Ob Andreas ein frommer Christ ist und sich gute Seite mit den Mönchen hält oder ob er mit ketzerischen Äußerungen auffällt und sich dadurch eventuell die Sympathie des ein oder anderen Dorfbewohners sichert, liegt ganz in der Hand der Spielenden.

Selten dürfte ein Videospiel historisch, kirchengeschichtlich und theologisch derart akkurat gewesen sein wie „Pentiment“. Wer den Titel durchspielt, erlebt nicht nur eine fesselnde Handlung, sondern erfährt auch ungemein viel über die damalige Zeit und ihr Denken. Manche faszinierende Momente mögen gar dazu anregen, selber über Gott und die Welt nachzudenken. Wie verblüffend viel Akribie in den Titel geflossen ist, bezeugt ein umfangreiches Literaturverzeichnis am Ende des Abspanns. Nicht von ungefähr hat Director Sawyer Umberto Ecos berühmten Historienroman „Der Name der Rose“ als großes Vorbild benannt.

Doch keine Sorge, „Pentiment“ reibt den Spielenden keine Schlaubergerei unter die Nase, und schon gar nicht versucht es sie zu missionieren. Das Spiel ist herrlich unprätentiös und konfrontiert uns oft mit – teils völlig optionalen – Situationen und Denkarten, die einfach als solche hingestellt werden und die zu beurteilen ganz dem Spieler oder der Spielerin überlassen werden. Für etwa 20 bis 25 Stunden werden wir schlichtweg in eine frühere Zeit hineingesogen.

Rein bin ich und ohne Sünde, makellos und ohne Schuld (Ijob 33,9)

Die minimal gehaltene Präsentation ist auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig. Uns hat diese Aufmachung direkt an die liebevoll gestalteten alten „Löwenzahn“-Spiele für PC erinnert. „Pentiment“ sieht aus wie eine mittelalterliche Buchmalerei und bietet künstlerisch überzeugende Zeichnungen und Animationen. Auf akustischer Ebene kommt das Spiel meist nur mit Hintergrundgeräuschen und ohne Musikuntermalung aus. Besondere Momente werden durch – natürlich historisch akkurate – Musik angemessen untermalt und dadurch umso stärker hervorgehoben.

Eine Vertonung bietet „Pentiment“ nicht. Zum Leben erwachen die zahlreichen Dialoge stattdessen durch unterschiedliche historische Schriftarten – etwa eine simple Schreibschrift für den einfachen Bauern, während die Mönche mit einer aufwändigen Frakturschrift „sprechen“. Optional nutzt das Spiel sogar historische Schriftzeichen wie das Schaft-s. Zu den zahlreichen Zugänglichkeitsoptionen zählt jedoch auch die Möglichkeit, alle Texte in einer leicht zu lesenden Schrift einzublenden. Sämtliche Dialogtexte werden wie beim Schreiben eines mittelalterlichen Manuskripts eingezeichnet, wobei häufig bewusst Schreibfehler eingebaut und erst am Ende ausgebessert werden. Die deutsche Übersetzung ist sehr gelungen. Die Anzahl an (unbewussten) Schreibfehlern in den Dialogtexten ist äußerst gering.

Auf der Nintendo Switch läuft das technisch ohnehin nicht anspruchsvolle „Pentiment“ einwandfrei. Die Steuerung ist sinnvoll umgesetzt und in unserem Test sind keinerlei Probleme aufgetreten. Ein Schönheitsmakel ist allerdings, dass beim Betreten eines neuen Gebiets die Animation – ein kurzes Herauszoomen aus der Szenerie und Umblättern der Seite – vermutlich aufgrund eines kleinen Ladevorgangs stockt. Dass es nur einen Spielstand gibt und man bei folgenreichen Entscheidungen kaum wirklich tricksen kann, wird manchem sauer aufstoßen, passt aber ins Spielkonzept mit seinen Entscheidungen, deren Tragweite oftmals kaum einzuschätzen sind.

Weiterführende Links: Forum-Thread

Fazit & Wertung

„Pentiment“ ist ein wunderbares Beispiel dafür, was dabei herauskommen kann, wenn eine Vision verwirklicht wird, ohne dass Anzugträger auf eine möglichst große Zielgruppe drängen. Es ist beachtlich, wie viel Liebe und Akribie in Spielwelt, Handlung, Figuren und Dialoge eingeflossen sind. So erwacht das frühneuzeitliche Bayern in einer gesellschaftlichen und religiösen Umbruchsituation zum Leben. Die historische Authentizität und die einfühlsame, keineswegs ironisierende oder vereinnahmende Darstellung christlicher Religiosität machen „Pentiment“ zu einem wahrhaft intellektuellen Erlebnis a lá „Der Name der Rose“. Letztlich aber spricht die ebenso spannende wie bodenständige, ebenso atmosphärisch wie unprätentiös dargebotene Geschichte all jene an, die sich für eine authentische Welt und einen spannenden Kriminalfall interessieren – wenn sie denn ein wenig Geduld mitbringen und sich nicht vom ungewöhnlichen Setting abschrecken lassen.

Bisher gibt es zwei Kommentare

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  • Avatar von Ryo Hazuki
    Ryo Hazuki 24.05.2024, 19:48
    Richtig gut geschriebene Review! Hat Spaß gemacht zu lesen
    Ich kann das Spiel jedem empfehlen, der grundsätzlich was mit der Thematik anfangen kann und kein Problem mit dem Spielprinzip eines...Point & Click Adventure/RPG Lite Hybrids haben Allerdings muss man bereit sein (viiiiel) zu lesen, da es keine Sprachausgabe gibt.
  • Avatar von Astorax
    Astorax 10.05.2024, 16:17
    Das Review hat mich definitiv angesprochen (toll geschrieben) und es reizt mich nun sehr, den Titel mal anzuspielen!
    Kann mir gut vorstellen, dass das genau mein Ding ist.