Zitat:
Unter dem Sternbild von Schmerz, Trauer, Verzweiflung
In «Antichrist» schont Lars von Trier nichts und niemanden
Bei seiner Uraufführung in Cannes von massiven Bekundungen des Abscheus, aber auch der Bewunderung einer überragenden künstlerischen Leistung empfangen, hat «Antichrist» beim zweiten Sehen nicht mehr allzu viel von einem Skandalfilm an sich. Gewiss, die Zumutungen, die bei der ersten Begegnung verstörend wirken können, die Bilder von sexueller Pein und Selbstverstümmelung, sind noch da, aber ihre allererste Schockwirkung haben sie bereits zu einem guten Teil eingebüsst. Nicht aber ihre enorme bildliche Kraft. Die Provokation wäre somit dort angekommen, wo sie hingehört: auf der künstlerisch-gestalterischen Ebene, vielleicht sogar auf der gedanklichen. Überraschend bleibt, wie wenig uns das Schicksal der beiden Figuren berührt, des Mannes, ja selbst der Frau, um deren Befinden, um deren Ort in der Welt es hier vor allem geht.
Im Albtraumland
Dabei sind beide, Mann und Frau, die auf exemplarische Weise namenlos bleiben, psychologisch äusserst nuanciert gezeichnet. Aber die Erschütterung, die ihr Schicksal - der Tod ihres kleinen, einzigen Kindes, für den sich die Mutter verantwortlich macht - auch in uns hervorrufen könnte, wird doppelt blockiert: durch unablässige, immer noch tiefer bohrende, an Bergman gemahnende Analyse und durch Horroreffekte, die zunehmend entlang einer Grenze zwischen vielleicht beabsichtigter und möglicherweise unfreiwilliger Komik operieren. Einfühlung ins Unglück einer sich opfernden Heldin, wie sie «Dogville» trotz aller brechtschen Verfremdung zuliess, wird hier verwehrt. Der Frau, dem immer schon prekären Zentrum in Triers Filmen, werden keine mildernden Umstände mehr zugestanden, ihr, die erneut zur Rächerin wird, bleibt die Erlösung versagt.
Das wäre die euphemistische Formulierung. Was ihr widerfährt, das ist die blanke Vernichtung. Nicht mehr auf dem Scheiterhaufen wie einst den Hexen quer durch Europa - wovon auf kühne, krud-dokumentarische Weise bereits «Häxan» (1921) von Triers Landsmann Benjamin Christensen handelte -, aber durchaus im Feuer. Das Perfide an «Antichrist» ist natürlich, wie Trier seine Protagonistin hier erst Forschungen zu eben diesen Hexenverfolgungen, dem «Gynozid», anstellen lässt, um ihr zuletzt dasselbe Ende bereitzuhalten. In der Logik des Films ist es freilich die einzig mögliche Weise für den Mann, dieser in besinnungsloser Wut nach seinem Leben trachtenden Furie zu entgehen. Worauf die Argumentation hinausläuft, signalisiert ja bereits das von Per Kirkeby gestaltete, bösartig rote Logo des Films, das das auslautende t des Titels mit dem[*], dem Symbol fürs Weibliche, verschmilzt. - Woher rührt die Vernichtungswut der Frau? Im letzten Grund unerklärt, hat sie ihre Ursache im Tod des Kinds und ihren Anlass in der heiklen Operation, die der Mann daraufhin verfügt. Er, der Analytiker, unternimmt den fatalen Schritt, die eigene Frau in Therapie zu nehmen. Und so hört sie denn Sätze wie, dass ihr «Trauerprozess überhaupt nicht atypisch» sei, wird sie provozierend souverän durch Rollenspiele zur «Aufarbeitung» des Geschehenen geführt - deren prekäre Suggestionen wir vielleicht unterschätzen, weil sie in derart suggestiv-verführerische Bildfindungen transponiert erscheinen. Was Anthony Dod Mantle, der bereits für «Dogville» und «Manderlay» je eigene Bildkonzepte entworfen hatte, hier an Kameraarbeit leistet, das reisst fürwahr neue Abgründe des Sehens auf.
Der Griff in die Werkzeugkiste
Zentral ist dabei die digitale Bildbearbeitung, die wir zum Teil gar nicht als solche wahrnehmen, wenn sie scheinbaren Alltagssituationen unmerklichen Zuschuss an Intensität verleiht, sei's durch Lichtgebung, Schärfeverschiebungen oder Farbveränderungen. Prominenter sind die Bereiche, in denen die Bildbearbeitung sichtbar in den Vordergrund tritt; nicht als Selbstzweck, sondern zur Erschütterung und Überhöhung der Realität. Da lässt ein insistierendes, feines Flirren im dichten Teppich der Farnpflanzen eine tiefer liegende Störung annehmen, da schreitet die weissgekleidete Frau über eine Brücke hinein in jenen verwunschenen Wald, Inbegriff der Schrecken, hinein in ein Albtraumland mit Plätzen wie dem «Fuchsbau», an dessen Ende «Eden» liegen wird, das verwunschen-verwünschte Haus des Paars auf einer Lichtung im Waldesdunkel, Ort der Sehnsucht und des Begehrens, Schauplatz der Versehrungen und Verheerungen.
Vollends offensichtlich wird die digitale Nachbearbeitung, wenn der Mann, dem Willem Dafoe verhalten-prägnant Gestalt verleiht, in einem Bild ohne jede Tiefe, dem trotzdem die Verneigung vor Tarkowski gelingt, im Regen der herniedertrommelnden Eicheln steht; und selbstverständlich dann, wenn die Frau, die grandiose, furchterregende Charlotte Gainsbourg, ihm den Unterschenkel durchlöchert, um ihm daran zwei Eisengewichte zu montieren, mit denen er sich, fluchbeladen, fortschleppt. Der Griff in die (digitale) Werkzeugkiste missrät jedoch dort, wo Hindin, Fuchs und Rabe nicht mehr jenen untergründigen Horror einer dunkel-unergründlichen Natur verkörpern, sondern zu platten Schockeffekten eingesetzt werden.
Letztlich vermögen aber auch derlei Spielereien dem Format dieses ausserordentlichen Films nicht wirklich etwas anzuhaben, in dem Lars von Trier aus dem Schatten seiner Depression heraus seine beiden verlorenen Menschen unter dem zart evozierten Sternbild von Schmerz, Trauer und Verzweiflung, den «drei Bettlern», wie sie auch genannt werden, schonungslos die fürchterlichsten Qualen erdulden lässt; der in betörend schönen Bildern die Klage von Prolog und Epilog gestaltet - die Arie «Lascia ch'io pianga» aus Händels «Rinaldo», als der einzigen Musik - und immerhin im Trost der Kunst aufhebt.
Christoph Egger