Die tragischen Ereignisse in Winnenden haben Computerspiele wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Während an manchen Orten ein teilweises Verbot gefordert wurde und Kaufhof Spiele mit einer Alterfreigabe von 18 und darüber aus dem Angebot genommen hat, ist ein weiterer Aspekt in den Medien besonders stark behandelt worden: Computerspielsucht.
Den Ausgang nahm das Ganze mit einem Artikel im Spiegel, der sich mit einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V beschäftigt. Die Ergebnisse der Studie sind auf der Homepage des KFN herunterzuladen, dieser Artikel basiert also direkt auf den Forschungsergebnisse, nicht auf Pressemeldungen oder Artikeln.
Aufgrund der breiten Abdeckung durch Medien sind manche Ergebnisse der Studie schon bekannt, bestimmte Aspekte sind aber untergegangen. Hier also noch mal eine Zusammenfassung und einige der wichtigeren Ergebnisse.
Das KFN hat 44 610 Schülerinnen und Schüler neunter Klassen in einer deutschlandweiten, repräsentativen Umfrage befragt. Eines der Ergebnisse war, dass 4,3% (unter 2 000) der Mädchen und 15,8% (circa 7 000) der Jungen ein Spielverhalten von mehr als 4,5 Stunden täglich aufweisen. Diese Gruppe ist nicht süchtig, und auch nicht besonders suchtgefährdet. 3% (circa 1340) der Jungen und 0,3% (circa 130) der Mädchen gelten als computerspielabhängig, dazu werden die Maßstäbe der International Classification of Diseases (ID10) analog verwendet. Diese beinhaltet zwar Computerspielsucht (noch?) nicht, aber andere Süchte. Es wurde also entsprechend gewertet. Suchtgefährdet sind 4,7% (circa 2 090) der Jungen und 0,5% (circa 220) der Mädchen.
Diese Zahlen wirken jetzt auf den ersten Blick sehr hoch, man sollte aber beachten, ob sie auch im Vergleich zu anderen Süchten hoch sind. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. sind in ganz Deutschland 2,4% der Bevölkerung zwischen 18 und 64 alkoholabhängig und 3,8% missbrauchen Alkohol. Tabakabhängig sind 7,3%, in Österreich sind laut Gesundheistministerium fast 800 000 Personen stark nikotinabhängig. Das Anton- Proksch- Institut, eine österreichische Forschungs- und Therapieeinrichtung, schätzt dass in Österreich 1 - 3% der Bevölkerung internetabhängig sind.
Wenn man berücksichtigt, dass sich die Studie zur Computerspielsucht also auf eine Altersgruppe bezieht, die vergleichsweise suchtgefährdet ist, zeigt sich, dass diese Sucht keineswegs mehr verbreitet ist als andere. Das soll keine Verharmlosung sein, aber Grund für Alarmismus ist es genauso wenig.
Als Faktoren für die Suchtgefährdung werden auf Spielerseite spielmotivationale Aspekte, realweltliche Selbstwirksamkeitserfahrungen, Persönlichkeitseigenschaften und zurückliegende Traumatisierungserlebnisse genannt, auf Spielseite die Art der Spielstruktur, die Vergabe virtueller Belohnungen ("instant gratification") sowie der Einbettung in eine soziale und persistente Spielumgebung.
Besonders stark sind diese Aspekte bei World of Warcraft gegeben, jeder fünfte WoW- Spieler ist entweder als abhängigkeitsgefährdet (11,6 %) oder als abhängig (8,5 %) einzustufen. Auch Guild Wars ist hier zu erwähnen. Die Gefahr von WoW sieht auch Dr. Poppe, Oberarzt beim Anton- Proksch- Institut, der selbst WoW spielt.
Wie schon erwähnt, ist die Studie repräsentativ, das heißt die Ergebnisse kann man auf ganz Deutschland hochrechnen. Das bedeutet von den 843 200 Jugendlichen im Alter von 15 Jahren sind 23 600 suchtgefährdet, und 14 300 haben schon die Anzeichen der Abhängigkeit, davon sind aber nur 1 300 Mädchen.
Es wurde auch eine kleinere Umfrage unter 11-Jährigen durchgeführt. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, aber weisen auf nur 1,2% suchtgefährdete und 0,8% abhängige Spieler in dieser Altersgruppe hin. Die Studie hält daher fest, dass die Ergebnisse nicht ohne weiteres auf andere Altersgruppen umgelegt werden können. Weiterhin wird hingewiesen, dass Jugendliche in diesem Alter generell anfällig für verschiedenste Süchte sind.
Unbeachtet blieb das Nebenergebnis der Studie, dass sich unter den Top 10-Spielen der Neuntklässler auf Platz 6 Call of Duty befindet, eine Serie von der die meisten Titel erst ab 18 sind. Von den 20 Topspielen sind fünf erst ab 16 Jahren freigegeben. Die Unwirksamkeit von Alterskennzeichnungen zeigen auch andere Studien, Stichproben und vieles mehr. In der Öffentlichkeit wird dieser Aspekt aber kaum diskutiert.
Der allgemein bekannte "gender gap", also dass Mädchen weniger spielen und in Folge auch eher nicht süchtig sind, wurde zwar auch von dieser Untersuchung bestätigt, eine Erklärung, wieso das so ist, findet sich hier aber genauso wenig.
Was in den Medien weniger kolportiert wurde, war eine der Forderungen der Studien, nämlich dass man das Abhängigkeitspotential bei der Alterseinstufung berücksichtigt. Seitens des Anton Proksch-Institut wird diese Forderung nicht unterstützt, dies wäre nur sinnvoll im Zusammenwirken mit anderen Maßnahmen, wie Aufklärung und Kompetenztraining.
Für Österreich und die Schweiz liegen keine Ergebnisse vor. Es ist aber anzunehmen, dass man die in Deutschland gewonnenen Ergebnisse zumindest ungefähr in der Altersklasse auch auf schweizer und österreichische Jugendliche zutreffen. Das Anton Proksch-Institut schätzt, dass 1 - 2% der Gesamtbevölkerung für Österreich computerspielabhängig sein könnten. Auch das zuständige Ministerium in Österreich beruft sich in der Beantwortung der Anfrage von Nintendo-Online auf das Anton Proksch-Institut.
Die American Medical Association (AMA), die unter anderem für die Klassifikation von Krankheiten zuständig ist, diskutiert momentan, ob man Computerspielsucht als eine Krankheit so wie andere Süchte betrachten soll.
In China wird schon seit 2007 sehr hart gegen Computerspielabhängige durchgegriffen. Dort müssen die Online-Spiel-Anbieter selbst die Spielzeit der minderjährigen Spieler einschränken, bei Überschreitungen drohen Punkteabzüge bis zu Löschungen. Online-Gamer müssen sich außerdem offiziell mit ihrem Namen und der Nummer eines Ausweises registrieren lassen. Wie die Futurezone vor kurzem berichtete, ist die Zahl der jugendlichen Nutzer bei Online- Spielen als Konsequenz um 7% gesunken. Außerdem seien nur 60% der jugendlichen Spieler mit dem System zufrieden.
Quellen:
www.kfn.de
www.spiegel.de
www.derstandard.at
futurezone.orf.at
www.dhs.de
Auskunft des österreichischen Bundesministerium für Gesundheit
Computerspielsucht - nüchtern betrachtet
Weiterführende Links: Forum-Thread
Bisher gibt es 15 Kommentare
Die neuen Studien, soweit ich das überblicke, haben so wie die letzte, die ich gepostet habe, alle die bisherigen Ergebnisse untermauert.
Dh die überwältigende Mehrheit der Videospieler und -innen hat ein unproblematisches Verhältnis zu dieser Form der Freizeitgestaltung, und der Anteil der Spieler bei denen das nicht so ist, ist im Vergleich zu anderen Süchten weder wesentlich höher noch niedriger.
Auch wenn das jetzt nur ein "educated guess" meinerseits ist und wohl nicht belegt (oder widerlegt) werden kann, würde ich sogar sagen, dass der Anteil an süchtigen/suchtgefährdeten Spieler/innen leicht zurückgegangen ist, aus dem Grund, als die absolute Gesamtanzahl an SpielerInnen vor allem in den letzten Jahren um viele Casuals, die zu einem noch größeren Anteil überhaupt nicht süchtig sind, zugenommen hat.
Für die Zukunft mache ich mir weniger Sorgen, dass der Anteil der Süchtigen/Suchtgefährdeten steigt, mit der steigenden Sensibilisierung durch die höhere Medienaufmerksamkeit ist eine leichte Abnahme eher wahrscheinlich. Außerdem wird Videospielen eher noch etwas mehr als weniger verbreitet werden, was den Anteil ebenso sinken lässt, aber die absoluten Zahlen leicht steigen lassen wird.
Abgesehen von Medienaufmersamkeit und genereller Suchtprävention kann man eh wenig gegensteuern. Der Vorschlag, dass die Alterseignung das auch berücksichtigt (oder ein eigener Warnhinweis wie bei PEGI üblich) ist wohl zweckfrei.
Eine neue australische Studie bestätigt die bisherigen Daten. Die Teilnehmer waren diesmal aus Australien, Europa und Nordamerika, und das Ergebis ist konsistent mit den bisherigen:
Ungefähr ein Spieler von 12 ist süchtig, also ca. 8,3%.
Was aber in der öffentlichen Diskussion immer wieder untergeht, ist das folgende:
For the study, Gentile questioned 1,178 youths about games using criteria used to assess pathological gambling, and deemed subjects that reported at least six of 11 symptoms as "pathological gamers.”
Symptoms included stealing games or money to buy games, irritability when gaming time was reduced and lying about the length of playing time.
As reported by The Washington Post, the findings suggest that over three million American youths are addicted to games, or at least have addictive tendencies that require treatment.
Eine US- Studie dass 8,5 % der Jugendlichen zwischen 8 und 18 in den USA mehrere Anzeichen für Computerspiel- Sucht haben. Hochgerechnet ergibt das 3 Millionen AmerikanerInnen.
Wie viele lassen sich jeden Tag stundenlang vom TV berieseln? Ich erinnere mich da nur an das Experiment bei Stern TV. Da wurde Familien ein paar Tage der Fernseher weggenommen. Und schon wussten die nichts mehr mit sich anzufangen. Ging über Streit bis zu Heulkrämpfen.
Aber hier ist es wieder der Fall, dass es einen so großen Teil der Bevölkerung ausmacht, dass man dagegen nicht vorgehen kann ohne dick Kritik zu ernten.
Und dieser Vergleich ist dahingehend noch mehr Contra-Zigarette und Pro-Videospiele, dass letztere - wenn überhaupt - nur einen von vielen Faktoren für einen Amoklauf darstellen. Zigaretten dagegen sind eine eindeutige Todesursache.
Imo hinkt der Vergleich.
@Yoshigruen:
Jo diese Stunden/Tag Angaben halte ich auch für sehr fragwürdig...